diplomatisches spiel
…. und wieder einmal spielt die politik ihr diplomatisches spiel. Es ist eigentlich ein unmöglicher spagat zwischen politisch-moralischer korrektheit und ökonomischen interessen, der schon bei bloßer kenntnissnahme schmerzen im schritt verursacht. als spielfeld für die einforderung menschenrechtlicher Zustände sind kulturelle veranstaltungen immer besonders beliebt – vor allem dann, wenn systemkritische künstler und denker erwartet werden. wie leicht ein veranstalter dabei zwischen baum und borke geraten kann, haben wir in den letzten tagen in frankfurt miterlebt. eben noch von “seiner” oberbürgermeisterin belobigt, die in wohlfeilen worten “standfestigkeit” bei der einhaltung von einladungen beschwört, muss herr boos kurz darauf eine öffentliche entschuldigung (“so sorry!”) an die offizielle delegation des beleidigten gastlandes aussprechen.
die freie meinungsäußerung über inoffizielle kanäle (zum beispiel bei ausstellungseröffnungen) befreit von der (vielleicht lästigen?) pflicht, unangenehme themen woanders ansprechen zu müssen: vielleicht beim nächsten offiziellen besuch, wenn eine hochrangig besetzte delegation aus politik und wirtschaft nach beijing reist, um erfolgreich den boden zu bereiten für den zugang zum größten markt der welt. wie sagte ai weiwei gestern in der sz: “ich bin sehr für dialog. aber dafür braucht man zwei seiten!”
bei unserem gestrigen besuch in der klinik trafen wir einen sehr wachen, sich gut erholenden ai weiwei. er begrüßte uns mit einem herzlichen “so sorry!” und erzählte, wie froh er über die sehr gute und freundliche betreuung sei. wenn man ihn dort trifft, kann man es kaum glauben, einem so “leidenschaftlichen” künstler und kämpfer zu begegnen, der “sich so leicht die finger verbrennt”. Dabei strahlt er nicht nur in diesen tagen eine erstaunliche heiterkeit aus, die dem klischee des aktivisten mit schaum vor dem mund vollkommen widerspricht. diese gelassenheit verschweigt allerdings nie seine sorge um die sicherheit seiner familie und freunde. jetzt jucken ihm aber erstmal die finger, den aufbau seiner ausstellung wieder selbst vor ort lenken zu können – obwohl wir ihm versichern konnten, dass alles in guten händen ist und er sich, ungewöhnlich genug für ihn, alle zeit lassen kann.
Tags: Ai Weiwei, entschuldigungskultur, politischer Aktivist
10 Antworten auf “diplomatisches spiel”
von dr. thomas schmidt 18 Sep 2009 | Antworten
vielen dank für diesen klugen beitrag, den ich gerne aufgreifen möchte, um an dieser stelle meine kernthesen, die im grunde ja nichts anderes als immer um dasselbe problem zirkulierende fragen sind, nochmals zusammenzufassen.
auf der einen seite stehen über eine milliarde chinesen, die zurecht anspruch auf wohlstand erheben; auf derselben seite stehen – wenn mir dieses wortspiel gestattet sei – ebenfalls etwa eine milliarde chinesen, vielleicht ein paar weniger, die zurecht ihre stimme gegen unterdrückung erheben und menschenrechte und demokratie einfordern. da aber das eine mit dem anderen derzeit nicht vereinbar scheint, ergeben sich offensichtlich folgende probleme, auf die all die betrachtungen über “zwangsessen” und “individuen” ja hinauslaufen: was soll zu welchen teilen wem geopfert werden? wie lange ist die überbetonung des wirtschaftlichen wachstums hinzunehmen? wäre ein westliches staatssystem für china in diesem augenblick das richtige? und wer entscheidet dies?
ich hoffe, dass die von mir oben aufgemachte differenz klar ist, und man sieht, dass es sich hierbei um eine aporie oder zumindest um ein dilemma handelt: wäre ein demokratisch geführtes china erfolgreicher als das jetzige? bis zu welchem grad darf freiheit gegen demokratie eingetauscht werden? leider können wir nicht spieltheoretisch ein gefangenendilemma annehmen oder gar von einem naturzustand ausgehen. konkret gibt es keine paradelösung hierzu, scheint mir. aber auch wenn ich auf eurer seite bin, sollte man folgendes bedenken: würde das china des frühen 21. jahrhundert unter den bedingungen, die wir uns alle so herbeisehnen, ebenso erfolgreich sein? ist es nicht so, dass wir eine gesellschaft, die zu großen teilen trotz aller errungenschaften der letzten dreißig jahre immer noch sehr arm und unterentwickelt ist, mit anderen maßstäben messen und zugestehen müssen, dass die gesellschaftliche entwicklung erst in folge eines noch umfassenden gesellschaftlichen wachstums stattfinden kann?
dass die berichterstattung der westlichen medien von gewissen ängsten und auch von unwissen – von ressentiments und rassismus würde ich in der großen mehrzahl der fälle nicht sprechen – getragen wird, möchte ich gerne zugestehen. auch sprichst du einen wichtigen punkt an, indem du darauf hinweist, dass die westlichen regierungschefs ihre vorgeblich kritische grundhaltung und empörung nur allzu schnell und leichtfertig einstellen, wenn es um nationale wirtschaftliche interessen geht. nun scheint es mir aber aus vertragstheoretischer sicht – als deren anhänger ich mich im sinne einer offenlegung meines methodischen hintergrunds, dem ich mich sehr verplichtet fühle, exponieren muss – nicht sinnvoll, deshalb in die haltung des defecteurs zu verfallen und gleichsam eine apriorische anti-haltung an den tag zu legen, da kooperation in jedem falle die vorzuziehende vorgangsweise darstellt, wie ich in mehreren meiner arbeiten bereits deutlich machte. wie weit dies in dem bestürzenden fall ai weiweis oder im fall der partizipation der offiziellen chinesischen delegation bei der frankfurter buchmesse aber eingehalten und durchgezogen werden kann, möchte ich zunächst gerne offen lassen und hier zur diskussion stellen. als kleinen denkanstoß möchte ich nur einen satz herrn ais aus dem interview, das er gestern der sz von seinem krankenbett in großhadern aus gab, sinngemäß wiedergeben. ai meinte, er sei stets für dialog und kooperation, nur seien dafür eben stets zwei parteien notwendig. heißt dies aber wiederum, dass, wenn sich die eine seite versperrt, die andere daraufhin ebenso jeden dialog und jedwede kooperation abbricht? mein denken kommt hier zu keinem ergebnis.
von Joe Hamilton 18 Sep 2009 | Antworten
Dear Mr Wilmes,
this is a very well written statement which also includes positive news concerning Mr Ai Weiwei´s recovery .Thank you.
Mr. Ai Weiwei is just an amazingly strong human being and I am sure that you will have a hard job trying to slow him down.
As a Tibet Activist/Supporter and someone that is involved in the Tibetan Cause, I must say that Mr Ai Weiwei stands for everything that we are also struggling for. Mr Ai weiwei is living proof ( thank God ) that what His Holiness the Dalai Lama has always said is true. This is not a battle between Tibetans or their Supporters and the people of China. This is a struggle between good and evil. The CCP propaganda machine would like to lead everyone to believe that people that speak their mind are criminals and deserve to be treated accordingly.
Mr Ai Weiwei and many others in China are putting their health and lives at stake to call out to the free world about injustice in their homeland.
I would like to thank the good people at Hausderkunst for standing firm and strong in these sad times. Germany and actually the whole of the Western World needs people like you to pick things up when they get too heavy for “professional” polticians that can´t see the woods because they have bent down to pick up a coin.
von dr. thomas schmidt 18 Sep 2009 | Antworten
@ joe: so what should be done in your eyes to not only address but to actually resolve such issues? do you consider permanent criticism without any real prospect of cooperation a solution?
von Joe Hamilton 18 Sep 2009 | Antworten
Dr Thomas, permanent crtiticsm is the only option we have because cooperation is, at least on a political economical level, funtioning very well.It has become almost impossible to boycott goods made in china because our markets are flooded with them. sadly a lot of these good are produced in labour camps that are more than similar to the concentration camps of Nazi Germany.
It probably all depends on one´s personal agenda how each of us see the Chinese government. I find it despicable that some people tend to look for excuses rather than to stand up and call out for the Chinese Communist Officials to end the suffering in their country. It is a fact that there is no religious freedom, no freedom of speech or any kind of personal freedom in today´s China. It is a fact that nuns, monks and lay people are being tortured, raped and murdered in official and black jails inside the boundaries of what the CCP has defined as China.
To argue that China is just a little behind us and will eventually catch up in democracy and human rights does not make sense at all.
Appeasing governments like this has not worked in the past and it will never work.
If China succeeds with it´s present tactic to trample on human rights and become a global player with a say in everything that effects us,be it politics or economics, life as we know it will be over.
I prefer to listen to those that have experienced the worst of what the CCP has to offer and act accordingly. For me this is a question of conscience of my humanity. As someone lucky enough to have been born in a safe country and allowed access to the things of my choice, it is my motivation to reach out to and speak out for those less fortunate.
One of my closest Tibetan friends is Phuntsok Wangchuk. Maybe you would like to watch this and ask yourself if, had you been in his position, you would be able to be so cool and distant about the realities of life under the Chinese Communist Party.
http://www.youtube.com/watch?v=lilif6y3Dr4&feature=channel_page
von dr. thomas schmidt 18 Sep 2009 | Antworten
joe, i definitely do not want to overlook or to justify the lack of democracy in china and the government’s disrespect of human rights in any way and it goes without saying that i would be more than delighted to see things being different. two of my best friends are actually chinese, one has lived in england for quite a while, the other one is still living in south-eastern china. they are both aware of what’s going in their country and they are very critical about it, but they actually convinced me that despite all these condemnable things the chinese society saw considerable improvements over the last thirty years in virtually all areas but personal freedom. wheras my friend’s grandparents were poor farmers, he is now pursuing his studies on a prestigious university. but political isolation and economic embargos alone won’t be of help either (especially if they remain unilateral) as you can see in countries like cuba, iran and north korea, where only the people have to bear the lion share of their governments’ isolation. so please do not misread the questions i ask as a justification for anything. since this thread’s subject is “diplomatic games” i would strongly argue in favour of diplomacy which involves criticism as well as incentives. if fierce protests in dealing with those regimes alone were able to change the situation i would agree with you, but since it does not and never has (or can you think of any case in which it did) we have to look for real and feasible solutions. if all these people who (as a consequence of china’s economic growth) come to the west now return to china one day, they might provide the engine to transform their society.
von Joe Hamilton 18 Sep 2009 | Antworten
“In November, 1937, Neville Chamberlain sent Lord Halifax to meet Adolf Hitler, Joseph Goebbels and Hermann Goering in Germany. In his diary, Lord Halifax records how he told Hitler: “Although there was much in the Nazi system that profoundly offended British opinion, I was not blind to what he (Hitler) had done for Germany” No all of us know how that ended !
One more very important message that we must send to the people of China…especially those that are presently reaping the benefits of a system that only gives those the freedom to write or work or study abroadtthat become part of it..is the fact that, due to the evil deeds of maybe only a couple of thousand of cruel people with personal deficiences, the people of china will carry the responsibility if they like it or not. germans know what I am talking about.
When all of this is over…and it will be..and China is free, like after extent of the Holocaust became known to the world, that is when another kind of suffering will begin. Those that stand up now will be exempt of any fault. Those that keep quiet will hopefully be understood. But those that benefited will also hopefully be brought to justice.
There will be many people that will claim to have done their best to bring change.
That is something we will all have to live with.
One way or the other, it will take hundreds of years for the people of China to shake off this burden.
von dr. thomas schmidt 18 Sep 2009 | Antworten
oh my god, this is just so frighting. whenever these people lack arguments and common sense they refer to the holocaust as their last resort. you should feel ashamed of yourself! just look at how other countries like turkey have been becoming (although slowly) more and more democratic in the framework of their intent to join the eu. you should not have insulted my friends saying they are part of the system. but comparing china to nazi germany is weird and only sheds light on your mental constitution.
von Joe Hamilton 19 Sep 2009 | Antworten
Who are these people ? I live in Germany and I know what I am talking about when it comes to how touchy people get when the holocaust is mentioned. That is exactly my point and I want to thank you for proving it for me !
There are amazing similarities between the methods used by the Nazis and the CCP to suppress opposition.Labour camps for example !
No one with the common sense you are asking of others should ever dream to compare Turkey with China. That´s a cheap shot Dr thomas and just doesn´t hold up.
Let´s stay on the topic being discussed here and that just happens to be the diplomatic games being played to appease the CCP Officials.
It is obvious where you are coming from in this debate so let´s not beat around the bush and get this clear. I do compare present day China to Nazi germany. I don´t see artists and writers that are not conform with the CCP party policies as splittists or criminals.
It is despicable that an artist and human like Mr. Ai Weiwei has to undergo brain surgery because he is who he is and has been brutally attacked by CCP goons.
If you want to defend your friends from China it is your right but I will continue to take the risk that my comments, based on fact, are seen as you Dr thomas as an insult. That is the least of all of our problems.
The truth will prevail.
And there is only one truth.
von Joe Hamilton 19 Sep 2009 | Antworten
One more thing Dr Thomas ! you are one of those people that hope something of our society will be taken back to China by your close friends.
When I speak out against the CCP and compare them to Nazis you immediately question my mental stability. I know that this is a tactic used quite often by the CCP. I also know that chinese mental insitutions are packed with people that are seen as uncomfortable to the CCP.
The similarity in your argumentation raises one question that we should discuss.
Who is influencing who ?
von trainspotting 13 Okt 2009 | Antworten
that’s a real discussion, thank you for that!